Wenn die Sehnen nicht mehr mitlaufen

Tendinopathien im Laufsport verstehen & vorbeugen

Serie »Sehnenverletzungen beim Laufen«, Teil 1

Plot Twist bei Kilometer 35

DNF bei Kilometer 35. Nicht wegen der Lunge, sondern wegen der Sehne. Wer regelmäßig läuft, kennt das Phänomen – die Beine fühlen sich gut an, das Mindset ist da, doch plötzlich macht die Achillessehne dicht.
Unsere Sehnen leisten im Laufsport Schwerstarbeit, Tag für Tag. Und sie gehören dennoch zu den verletzungsanfälligsten Strukturen: Zwischen 7 und 10 % aller Laufverletzungen betreffen direkt die Sehnen – allen voran die Achillessehne, dicht gefolgt von Plantarfaszie und Patellarsehne (2, 3).

Warum sind gerade Sehnen so anfällig? Welche Trainingsfehler führen zu Problemen? Und wie schützt ihr eure Sehnen sinnvoll, ohne euch in Mythen zu verlieren?
Willkommen zu Teil 1 unserer Serie über Sehnenverletzungen beim Laufen – euer Deepdive in die Welt der Tendinopathien.

Was ist eigentlich eine Tendinopathie?

Keine klassische Entzündung – sondern eine Anpassungsstörung
Viele bringen Sehnenschmerzen direkt mit einer Entzündung in Verbindung. Doch bei den meisten Laufverletzungen ist das nicht der Fall. Stattdessen handelt es sich um eine Anpassungsstörung, eine sogenannte Tendinopathie: Die Sehne wird überlastet, kann sich nicht ausreichend regenerieren und beginnt, sich schrittweise abzubauen. Das beschreibt das "Continuum-Modell": Es unterscheidet drei Phasen – Reaktion, gestörte Reparatur und Degeneration (1).

Schmerz ≠ Struktur
Interessanterweise lassen sich Schmerzen nicht immer zuverlässig an der Sehnenstruktur ablesen. Manche Läufer/innen haben deutliche Veränderungen im Ultraschall – aber keine Beschwerden (1). Auch eine „auffällige“ Sehne kann also schmerzfrei funktionieren – und umgekehrt.

Wenn Schmerz das Gehirn verändert
Chronische Tendinopathien beeinflussen das zentrale Nervensystem: Die Muskelaktivität wird gehemmt und die Koordination leidet. Dagegen hilft neuroplastisches Training (5) – vor allem rhythmisch-isometrische Übungen mit externem Fokus, etwa Wadenpressen im Metronom-Takt. Sie verbessern die Steuerung und helfen bei chronischen Beschwerden zurück zu mehr Kontrolle.


Wie häufig sind Sehnenprobleme bei Läuferinnen und Läufern?

Die Epidemiologie zeigt deutliche Unterschiede – abhängig vom Leistungsniveau:

LäuferkohorteVerletzungen pro 1.000hAnteil SehnenverletzungenQuelle
Laufanfänger17-18≈ 10 %(2)
Freizeitläufer <40 km/Woche7-9≈ 9 %(2)
Trail-Ultraläufer≈ 12≈ 8 %(3)

Besonders kritisch: Wer dauerhaft mehr als 40 km pro Woche läuft, verdoppelt sein Risiko für Achillessehnenschmerzen (4).

Was stresst die Sehne?

Sehnen reagieren besonders empfindlich auf plötzliche oder ungewohnte Belastungen. Eine zentrale Rolle spielt die Akut-zu-chronisch-Quote – das Verhältnis der aktuellen zur durchschnittlichen Trainingsbelastung. Liegt dieser Wert über 1,3, verdoppelt sich das Risiko für eine Sehnenverletzung deutlich (4). Besonders gefährlich sind abrupte Steigerungen, Sprints, steile Anstiege oder neue Trainingsformen ohne Vorbereitung.

Auch biomechanische Schwächen können die Sehne überlasten. Eine eingeschränkte Dorsalextension - also die Beweglichkeit des Sprunggelenks nach vorne - unter 10 cm (Knee-to-Wall-Test) erhöht die Spannung auf die Achillessehne (6). Eine schwache Fußmuskulatur – besonders die kurzen Zehenbeuger – steigert zusätzlich das Risiko für Überlastungsschäden (7). Falls ihr bereits eine Sehnenverletzung hattet, tragt ihr das höchste Rückfallrisiko.

Mit zunehmendem Alter sinkt die Anpassungsfähigkeit der Sehnen. Auch ein hoher Body-Mass-Index belastet sie zusätzlich (8). Bei Frauen kann ein postmenopausaler Östrogenmangel die Sehnenstruktur schwächen (9). Ebenso erhöhen genetische Faktoren wie das T-Allel des COL5A1-Gens die Anfälligkeit (9).

Nicht zu unterschätzen: Umweltreize wie Temperaturen unter 5 °C, harte Untergründe oder ein Wechsel zu Schuhen mit Null-Absatz (Zero Drop) können die Sehne zusätzlich stressen.

Bin ich gefährdet? – Screening-Tests im Überblick

Mit vier einfachen Tests könnt ihr euer persönliches Sehnenrisiko prüfen:

  • 3 × 20 Single-Leg Heel-Raise:
    < 20 Wiederholungen = Kraftdefizit

  • Knee-to-Wall-Test:
    Differenz von > 2 cm im Seitenvergleich

  • Pain-Log (0–10 NRS):
    Anstieg > 2 in 48 h = Warnsignal für Überlastung

  • VISA-A-Score:
    < 80 = funktionelle Einschränkung

Zwei oder mehr positive Marker? Dann wird ein präventives Programm dringend empfohlen.

Prävention – fünf Hebel, die wirklich wirken

Progressives Load-Management
Trainingspensum systematisch (Umfang und Intensität) steigern – nicht sprunghaft.
→ regelmäßige Erholungswochen einplanen.

Heavy-Slow-Resistance (HSR)
2–3 × pro Woche, 4 Sätze à 6–8 Wiederholungen, Tempo 3-0-3
→ HSR ist mindestens so effektiv wie rein exzentrisches Training (6).

Plyometrie
Sprungsequenzen wie seitliche Sprünge und Pogohops 2 × wöchentlich (nur ausgeruht)
→ verbessert die Energieaufnahme und -abgabe der Sehne.

Foot-Core-Training
„Short-Foot“-Übungen oder Toe-Curls stärken nachweislich die Fußbinnenmuskulatur – messbare Effekte in sechs Wochen (7).

Ernährung & Regeneration
Kollagen plus Vitamin C zeigt mögliche Vorteile – die Evidenz ist uneinheitlich (10).
→ Schlaf und ausreichende Kalorienzufuhr sind Pflicht.

Zurück auf die Laufstrecke: Die vier Reha-Phasen

Der Weg zurück ins schmerzfreie Laufen nach einer Tendinopathie braucht mehr als Geduld. Was zählt, ist ein strukturiertes Reha-Konzept. Die Physiotherapie begleitet euch mit gezielten Maßnahmen wie Belastungsmonitoring und individueller Trainingsanpassung.

Phase 0 – Schmerzkontrolle

  • Ziel: akute Beschwerden reduzieren

  • Methode: 5 × 45 Sek. isometrisches Wadenheben bei 70 % Maximalkraft

  • Kriterium: Schmerz nach 24 h ≤ 2/10 (NRS-Skala)

Phase 1 – Struktur aufbauen

  • Ziel: Sehne kräftigen und Belastbarkeit erhöhen

  • Methode: HSR-Training, z. B. 3 × 6 Wiederholungen im Tempo 3-0-3

  • Monitoring: VISA-A (Ziel: ≥ 70 Punkte), > 20 schmerzfreie Calf-Raises

Phase 2 – Energiespeicher trainieren

  • Ziel: elastische Speicherkapazität der Sehne wiederherstellen

  • Methode: Plyometrie (Pogohops, Sidehops), nur bei ausreichender Belastbarkeit

  • Kontrolle: Technik, Re-Tests

Phase 3 – Return to Run

  • Ziel: kontrollierte Rückkehr ins Lauftraining

  • Methode: Walk-to-Run-Progression (z. B. 1 Min. Laufen / 1 Min. Gehen × 6)

  • Kriterium: Schmerz über 2/10 nach 24 h

Neuroplastisches Extra (optional)

  • Ziel: kortikale Hemmung senken, Koordination verbessern

  • Methode: 2 × Woche isometrisches Wadenpressen im 100-BPM-Takt

  • Effekt: Koordinationsverbesserung um bis zu 15 % (5)

Fit für den Neustart: Die Checkliste

  • VISA-A-Score ≥ 90

  • Fersenhebe-Endurance ≥ 90 % der Gegenseite

  • Hop-Test-Symmetrie ≥ 90 %

  • Schmerz < 2/10 nach 20-minütigem Tempolauf

  • Keine Schwellung

Fazit:

  • Tendinopathien sind keine klassische Entzündung, sondern eine Reaktion auf Überlastung.

  • Die größten Risikofaktoren: abrupte Trainingssprünge und frühere Verletzungen.

  • Entscheidend für Prävention und Reha ist progressives Krafttraining – ob HSR oder Exzentrik.

  • Die Reha dauert oft Monate, aber mit Pain-Monitoring statt Pause bleibt ihr auf Kurs.

  • Kollagen kann sinnvoll ergänzen – ersetzt aber kein Training.

Wie sieht es bei euch aus?

Seid ihr sehnentechnisch auf der sicheren Seite oder überrascht euch euer Risiko?Teilt gerne eure Erfahrungsberichte und tauscht euch in den Kommentaren aus. Schaut außerdem ab jetzt jede Woche auf unserem HEALTH BLOCK und bei Physiotherapie: Schmerzfrei Laufen vorbei – nächste Woche geht es weiter mit dem Thema Plantarfasziopathie!

Quellenverzeichnis:

  1. Cook JL, Purdam CR. The continuum model of tendon pathology. Br J Sports Med. 2016;50:1187‑1191.

  2. Videbæk S, et al. Running‑related injury epidemiology: systematic review. J Orthop Sports Phys Ther. 2015;45:513‑526.

  3. Jiang X, Sárosi J, Bíró I. Lower‑limb injuries in trail runners: systematic review. Phys Act Health. 2024;8:137‑147.

  4. Nakaoka G, Barboza SD, Verhagen E, et al. The association between the acute:chronic workload ratio and running‑related injuries in Dutch runners: a prospective cohort study. Sports Med. 2021;51:2437‑2447.

  5. Orssatto LB, Fernandes G, Shield AJ, Trajano GS. Runners with mid‑portion Achilles tendinopathy have greater triceps surae intracortical inhibition than healthy controls. Scand J Med Sci Sports. 2022;32:728‑736.

  6. Maetz R, et al. Heavy‑slow resistance vs eccentric training for tendinopathy: meta‑analysis. Orthop J Sports Med. 2023;11:23259671231171178.

  7. Osborne JWA, et al. Muscle size and function in plantar heel pain: systematic review. J Orthop Sports Phys Ther. 2019;49:925‑933.

  8. van Leeuwen KD, et al. Higher BMI and plantar fasciopathy: meta‑analysis. Br J Sports Med. 2016;50:972‑981.

  9. van der Vlist AC, et al. Risk factors for Achilles tendinopathy: systematic review. Br J Sports Med. 2019;53:1352‑1363.

  10. Khatri M, Naughton RJ, Clifford T, et al. The effects of collagen peptide supplementation on body composition, collagen synthesis and recovery from joint injury and exercise: a systematic review. Amino Acids.2021;53:1493‑1506.

Weiter
Weiter

Marco´s Pastaperfektion